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Konzeptbild einer KI-gesteuerten Drohne
© pixabay.com  |  leerosario-4585232

Besatzung als Geschäftsmodell

Israel - globaler Hotspot der digitalen Überwachungs-Industrie

Von Werner Rügemer

2005 verließ Shalev Hulio die israelische Armee. Er war Hauptmann, 24 Jahre alt, blieb Reservist. Er hatte mehrere Einsätze gegen die zweite Intifada absolviert. Er machte das, was tausende andere junge Ex-Militärs schon vor ihm gemacht hatten. Er gründete mithilfe seiner militärischen Kenntnisse ein High Tech-Start Up. Zuerst war das MediAnd. Dann gründete er Comitech, finanziert von einem israelischen Start Up-Investor. Das israelische Militär war von Comitechs Späh-Software begeistert. Deshalb gründete der Reservist 2014 den neuen Start Up NSO Group und brauchte größere Kredite. Die kamen aus den USA, vom Risikokapital-Investor Francisco Partners aus dem Silicon Valley. 

NSO entwickelte die Cyberware Pegasus: Sie wurde unbemerkt in alle Smartphones in Gaza und Westjordanland installiert und meldete alle Anrufe, SMS, Bewegungen der Palästinenser an die israelischen Geheimdienste. Daraus wurde ein globales Exportgeschäft: Vor dem Untersuchungsausschuss des Europäischen Parlaments sagte ein Vertreter von NSO 2022 aus: „Wir haben die Cyberware Pegasus auch an 60 Großkunden in 45 Ländern geliefert, vor allem an staatliche Dienste, zur Bekämpfung von „Terroristen und Kriminellen“. Dieser Pegasus-Skandal war durch einen internationalen Medien-Verbund – Guardian, Süddeutsche Zeitung, Washington Post usw. – bekannt, wurde aber gar kein Skandal, wurde vergessen.

 

„Kill first!“

„Die jungen Soldaten, sie sind 18 oder 19 Jahre alt, erhalten in den riesigen Entwicklungsabteilungen, die das Militär gegründet hat, alle Freiheiten, um in der digitalen Welt an der Spitze zu sein.“ So berichtete Ronen Bergman, Chefkorrespondent für Militär- und Geheimdienstfragen der israelischen Tageszeitung Yediot Acharonot, schon vor fünf Jahren in seinem preisgekrönten internationalen Bestseller Rise and Kill First. The Secret History of Israels Targeted Assasinations (Random House, London 2018). Die Start Ups werden meist von jungen Ex-Offizieren hochgezogen, oft beginnen sie schon in der Armee damit. Danach, oft mithilfe von Stipendien von Google & Co., überführen sie ihre Erfahrungen bei der Fern- und Nah-Erkennung, Bekämpfung und gezielten Tötung von Palästinensern in unternehmerische Form.

Diese Soldaten und Soldatinnen werden in Israel als Helden und nationale Elite gehätschelt, weil sie bisherige Regularien und Moralvorstellungen brechen. „Innovative Disruption“ heißt das in der Digital- und Plattformindustrie. „You break things“, „You are software Ninjaneers“ – so werden Gründer-Soldaten laut Bergman gelobt. 

„Wer in einer der bekannten Eliteeinheiten dient, bringt wertvolles Wissen mit und macht sich damit nicht selten ein paar Jahre später selbständig“, so berichtete bewundernd ebenfalls schon 2018 die bundesdeutsche Wirtschaftszeitung Handelsblatt. Die völkerrechts- und menschrechtswidrige Praxis des jahrzehntelangen Besatzungsregimes ist ein Trainingscampus der moralfreien Disruption. Millionen Menschen werden als Versuchskaninchen benutzt. Das Militär ist der „Innovationstreiber“ der wichtigsten Wirtschaftsbranche Israels. 

Seit dem Einsatz ferngelenkter Tötungs-Drohnen bei der ersten Intifada entwickelt der militärisch-industrielle Digital-Komplex Israels immer neue und bessere Technologien. Dafür werden alle Arten von menschenbezogene Daten erfasst, nach Zieleingaben integriert und in höchster Geschwindigkeit für nachfolgende Operationen ausgewertet …

„Das Polizeihauptquartier in Jerusalem im Dezember 1945, nach einem Bombenanschlag durch die zionistische Terrorgruppe Irgun.“
© G. Eric and Edith Matson Photograph Collection

Terror und Widerstand

Den Angriff der Hamas und anderer militanter palästinensischer Organisationen am 7. Oktober als Akt des Widerstandes zu bezeichnen, kommt einem Tabubruch gleich. Doch was als Terrorismus und was als Widerstand bezeichnet wird, hängt nicht von den Definitionen des Begriffs, sondern vorrangig von der Deutungshoheit ab.

Von Dieter Reinisch

Knapp vor Weihnachten nahm ich an einer Veranstaltung zum Krieg in Palästina teil. Veranstaltungsort war das Politische Zentrum Jura Soyfer im dritten Wiener Gemeindebezirk. 

Die Diskussion des durchwegs linken Publikums war kontroversiell. Nachdem ein Teilnehmer über den „palästinensischen Widerstand“ sprach und damit den bewaffneten Kampf unterschiedlicher Gruppen gegen Israel bezeichnete, warf ein anderer Teilnehmer ein: Hamas und Palästinensischer Islamischer Dschihad seien trotz ihrer Feindschaft gegenüber Israel „bürgerliche Kräfte“, wurden von Israel lange unterstützt und sind dadurch keine anti-imperialistischen Kräfte.

Wird in der Palästina-solidarischen Linken um den Charakter des bewaffneten Kampfes in Gaza noch gestritten, sind die bürgerlichen Medien eindeutig: „Terrorraketen“ würde die „Terrororganisation“ Hamas aus „Terrortunneln“ abfeuern, verkündet der ORF-Korrespondent in Tel Aviv Tim Cupal gebetsmühlenartig.

Was eine Organisation terroristisch macht, erklärt der ORF dabei nicht. Bei einer Diskussionsrunde im Österreichischen Journalisten Club (ÖJC), bei der ich als Gast geladen war, konnte oder wollte Eva Karabeg, damalige Chefredakteurin der ORF-Nachrichten, auf die Frage von Liza Ulitzka, wieso der ORF den Begriff verwende, nicht antworten: „Sie sehen ja, dass wir es machen“, war ihr knapper Kommentar.

Anders agiert die britische BBC: Sie vermeidet die Verwendung des Begriffs „Terrorismus“ generell, wie ihr langjähriger Kriegsreporter John Simpson in einem Beitrag am 11. Oktober 2023 ausführte. In den österreichischen Medien und der Öffentlichkeit wird der Begriff „Terrorismus“ zumeist moralisch-ethisch verwendet: Terror sind Gewaltakte, die von Meinungsmachern als verwerflich, schlecht und bösartig angesehen werden. Auch sind „Terroristen“ zumeist andere, sie gehören nicht zur Mehrheitsgesellschaft.

Von Staaten wird zumeist ein rechtlicher Terrorismus-Begriff verwendet: Terrorist ist, wer auf den Terror-Listen der USA, der EU oder anderer Länder steht. Auf einer solchen war auch bis 2008 Nelson Mandela, der Anführer der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika. Die kurdische YPG steht heute noch darauf, obwohl sie selbst an der Seite der USA in Nord-Syrien gegen Daesh/IS kämpfte.

Eine staatliche Terrorismus-Definition umfasst nur nicht- oder anti-staatliche Akteure und nicht terroristische Taten von Staaten selbst. In der Wissenschaft wird daher seit Jahrzehnten nach einer umfassenden Begrifflichkeit gerungen. Der führende Terrorismus-Forscher Alex P. Schmid sammelte bereits vor einem Jahrzehnt 250 in der Literatur gebräuchliche Definitionen.

In meinem Buch definiere ich Terrorismus als angewendete oder angedrohte heterogene Gewalt, die politische Ziele verfolgt. Das bedeutet, dass sie eine Vielzahl von Aktionen, Zielen und Akteuren umfassen kann. Der Terrorismus ist eine Form der politischen Kommunikation, denn Terroranschläge richten sich an ein breites Publikum in der Hoffnung, politische Ziele zu transportieren. Dadurch sollen Machtverhältnisse in der Mehrheitsgesellschaft veränKnapp vor Weihnachten nahm ich an einer Veranstaltung zum Krieg in Palästina teil. Veranstaltungsort war das Politische Zentrum Jura Soyfer im dritten Wiener Gemeindebezirk. Die Diskussion des durchwegs linken Publikums war kontroversiell. Nachdem ein Teilnehmer über den „palästinensischen Widerstand“ sprach und damit den bewaffneten Kampf unterschiedlicher Gruppen gegen Israel bezeichnete, warf ein anderer Teilnehmer ein: Hamas und Palästinensischer Islamischer Dschihad seien trotz ihrer Feindschaft gegenüber Israel „bürgerliche Kräfte“, wurden von Israel lange unterstützt und sind dadurch keine anti-imperialistischen Kräfte.

Wird in der Palästina-solidarischen Linken um den Charakter des bewaffneten Kampfes in Gaza noch gestritten, sind die bürgerlichen Medien eindeutig: „Terrorraketen“ würde die „Terrororganisation“ Hamas aus „Terrortunneln“ abfeuern, verkündet der ORF-Korrespondent in Tel Aviv Tim Cupal gebetsmühlenartig.

Was eine Organisation terroristisch macht, erklärt der ORF dabei nicht. Bei einer Diskussionsrunde im Österreichischen Journalisten Club (ÖJC), bei der ich als Gast geladen war, konnte oder wollte Eva Karabeg, damalige Chefredakteurin der ORF-Nachrichten, auf die Frage von Liza Ulitzka, wieso der ORF den Begriff verwende, nicht antworten: „Sie sehen ja, dass wir es machen“, war ihr knapper Kommentar.

Anders agiert die britische BBC: Sie vermeidet die Verwendung des Begriffs „Terrorismus“ generell, wie ihr langjähriger Kriegsreporter John Simpson in einem Beitrag am 11. Oktober 2023 ausführte. In den österreichischen Medien und der Öffentlichkeit wird der Begriff „Terrorismus“ zumeist moralisch-ethisch verwendet: Terror sind Gewaltakte, die von Meinungsmachern als verwerflich, schlecht und bösartig angesehen werden. Auch sind „Terroristen“ zumeist andere, sie gehören nicht zur Mehrheitsgesellschaft.

Von Staaten wird zumeist ein rechtlicher Terrorismus-Begriff verwendet: Terrorist ist, wer auf den Terror-Listen der USA, der EU oder anderer Länder steht. Auf einer solchen war auch bis 2008 Nelson Mandela, der Anführer der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika. Die kurdische YPG steht heute noch darauf, obwohl sie selbst an der Seite der USA in Nord-Syrien gegen Daesh/IS kämpfte.

Eine staatliche Terrorismus-Definition umfasst nur nicht- oder anti-staatliche Akteure und nicht terroristische Taten von Staaten selbst. In der Wissenschaft wird daher seit Jahrzehnten nach einer umfassenden Begrifflichkeit gerungen. Der führende Terrorismus-Forscher Alex P. Schmid sammelte bereits vor einem Jahrzehnt 250 in der Literatur gebräuchliche Definitionen.

Terror ist eine Form der politischen Gewalt und als solche eine Unterform der unkonventionellen Kriegsführung. Obwohl Gruppen als „Terrororganisationen“ bezeichnet werden, ist Terror nur eine Aktionsform ihres Repertoires. Der Angriff der palästinensischen Gruppen um die Hamas am 7. Oktober kann – je nach Definition, die verwendet wird – durchaus, als Terror interpretiert werden. Viel öfter als politische Gewalt setzt die Hamas seit ihrer Gründung allerdings andere Dinge um: Sie produziert täglich Zeitungen und ist, wie es im Islam gefordert wird, im sozialen Bereich engagiert. Dennoch wird sie von den westlichen Medien als Terrororganisation, nicht aber als Verlag oder Sozialdienst von den westlichen Medien bezeichnet.

Denn Terrorismus ist ein moralisch belasteter Begriff und wer Terrorist ist, bestimmt die Deutungshoheit. Die Gewalt der Palästinenser wird von den westlichen Medien und Politikern abgelehnt, daher wird diese politische Gewalt „Terror“ genannt. Jene, die die Gründe dahinter verstehen, bezeichnen es dagegen als „Widerstand“ gegen den jahrzehntelange Terror Israels gegen die palästinensische Bevölkerung. Dieser Staatsterror Israels ist zwar wahllos, willkürlich und tödlicher, doch wird er von denen, die Israel unterstützen nicht als Terror, sondern als Selbstverteidigung bezeichnet. An der Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg in Gaza zeigt sich auch die Willkürlichkeit der Verwendung des Begriffs in den österreichischen Medien.

Aus der Sicht Israels und seiner westlichen Unterstützer ist der Widerstand in Gaza „Terrorismus“. Die breiteste und tödlichste Form des Staatsterrorismus ist der Genozid. Einen solchen verübt Israel in Gaza seit Monaten und wurde daher Anfang Jänner von Südafrika beim International Criminal Court angeklagt. Im Ö1-Morgenjournal am 12. Jänner unterstrich der ehemalige UN-Kommissar und Menschenrechtsexperte Manfred Nowak, dass die Anklageschrift überzeugend und detailliert Beweise für Genozid darlege: „Israel wird es sehr schwerfallen, die Anklageschrift zu entkräften“, erklärte er …

Vom woken Zeitgeist sind alle Generationen betroffen    |    © pixabay.com | gagnonm1993

Wokeness im Dienste der Eliten

Der linke Wiener Philosoph Robert Pfaller räumt im Exklusivinterview mit Die Krähe mit dem Wokismus* auf. Er erklärt, warum „Political Correctness“ ursprünglich ein Spottbegriff war und warum die Rechtspopulisten, die derzeit kritische Positionen vertreten, eigentlich die heimlichen Komplizen der Regierenden sind.

Von Rudolf Preyer

Was halten Sie von der sogenannten „Querfront“? Erinnert sei etwa an die „Corona-Demos“. Gemäß der „U-Hakerl-Theorie“ oder der „Hufeisentheorie“ finden demnach die extreme Rechte und die äußerste Linke in bestimmten Politikfeldern zueinander.

Die Behauptung, dass die Rechte und die Linke sich in den Extremen berührten, ist eine Propagandalüge. Sie verleugnet die historischen Tatsachen – zum Beispiel, dass der Austrofaschismus und die Linke in Österreich nie auch nur irgendwelche Berührungspunkte besaßen; dass es die westlichen, bürgerlichen Demokratien waren, die geschlossen den faschistischen Putsch in Spanien unterstützt haben; und dass der massivste Widerstand gegen den Nazi-Faschismus in Österreich wie in vielen anderen Ländern Europas von den Kommunisten geleistet wurde.

Aktuell erfüllen rechtspopulistische Parteien eine seltsame, die aktuellen Machtverhältnisse eigentümlich stützende Funktion. Alles, was gegen die vorherrschende Politik in Österreich oder Deutschland – mit ihren oft durchaus fragwürdigen Entscheidungen zum Beispiel zur Austeritätspolitik, zu Corona oder zum Krieg in der Ukraine – an Unzufriedenheit sowie an vernünftiger Kritik laut werden könnte, wird von den Rechtspopulisten in Beschlag genommen und dadurch diskreditiert. Dadurch sind die Rechtspopulisten die heimlichen Komplizen der Regierenden: Man braucht dieser Kritik dann nicht mehr mit Argumenten zu begegnen. 


Es genügt, zu betonen, dass die FPÖ oder die AfD auch genau dieser Ansicht wäre.

Es wird die Aufgabe zukünftiger linker Bewegungen und Parteien sein, dieses oft durchaus konstruktive Kritikpotential und die begründete Unzufriedenheit vieler Menschen nicht mehr wie bisher aus dem Gesichtskreis der akzeptablen Standpunkte zu verbannen und sie dadurch zur Beute der Rechten werden zu lassen.

 

Robert Pfaller © Romana Kanzian

Wann haben Sie Political Correctness das erste Mal in Österreich als „ungut“ erlebt?

Zum ersten Mal sind mir diese Tendenzen in den USA aufgefallen, als ich in den 1990er-Jahren wegen einer Gastprofessur in Chicago lebte. Ich ahnte freilich, dass all das aufgrund der US-Hegemonie im Kulturbereich bald zu uns kommen würde – obwohl meine Wiener Freunde und ich noch ungläubig den Kopf geschüttelt haben, als wir zum ersten Mal den Ausdruck „political correctness“ hörten. Alleine die Bezeichnung erschien uns schon so absurd und anti-politisch, dass wir uns kaum vorstellen konnten, dass irgendjemand das ernst meinen könnte. Bezeichnenderweise war der Ausdruck ja ursprünglich, wie wir erst viel später erfuhren, als ironische Spottbezeichnung innerhalb der amerikanischen Linken entstanden. Um 1968 machte man sich damit über Genossen lustig, die in ihrer linken Gesinnung allzu starr und zwanghaft erschienen. Leider ging diese Ironie später verloren. Allerdings ist inzwischen eine andere, weniger bewusste Ironie an ihre Stelle getreten: Gerade die größten Sprachaufpasser und Veranstaltungsverhinderer profilieren sich mit der Behauptung, die Political Correctness existiere gar nicht, und die Cancel Culture sei eine bloße Erfindung ihrer Gegner.


Was macht für Sie den Kern der Political Correctness aus?

Zwei Punkte erscheinen mir bei diesem Programm markant: Erstens, dass ausgerechnet die Eliten sich von ihrer Schuld an gesellschaftlichen Missständen freizusprechen versuchen, indem sie alle Probleme auf eine symbolische und sprachliche Ebene verlagern. Dort sind sie dann die ersten, die die Benachteiligten nicht mehr mit den bösen Worten bezeichnen – ganz so, als ob die Benachteiligung alleine dadurch schon magisch aufgehoben würde. Und ausgerechnet die historisch größte Sklavenhaltergesellschaft der Welt belehrt dann alle übrigen Weltteile, wie vorteilhaft „Diversität“ sei und wie man Personen mit dunkler Hautfarbe am wenigsten kränkend bezeichnet.

Das zweite wichtige Strukturmerkmal besteht darin, dass – entgegen altmodischen europäischen Auffassungen von Aufklärung und Universalismus – nicht mehr vorausgesetzt werden darf, dass auch „People of Colour“, Frauen oder Angehörige sexueller Minderheiten erwachsene Menschen sind. Solchen anderen wird vielmehr eine abgrundtiefe Empfindlichkeit attestiert …

Ein Kämpfer der marxistischen Gruppierung „Demokratische Front zur Befreiung Palästinas“, die am Angriff auf Süd-Israel am 7. Oktober beteiligt war
© DFLP

Was geschah am 7. Oktober?

Sie hätten Babys geköpft oder erhängt, Frauen auf bestialische Weise vergewaltigt, verstümmelt und getötet und Kinder erschossen. Das alles sollen die Kämpfer der militanten Palästinenserorganisation Hamas bei ihrem Überfall auf Israel angerichtet haben. Doch die Beweislage für diese Taten ist dünn und viele Augenzeugenberichte ergeben ein ganz anderes Bild von den Dingen, die sich am 7. Oktober abgespielt haben. Dieter Reinisch hat sich auf Spurensuche begeben und unterzieht die Berichterstattung über diesen Tag einer gründlichen Analyse.

Von Dieter Reinisch

Mythen über den 7. Oktober entstanden rasch und verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in den Medien. Beweise gab es keine und viele Vermutungen erhärteten sich nicht. Ganz im Gegenteil: Einige mussten von internationalen Medienanstalten sogar zurückgenommen werden. 

So entschuldigte sich etwa CNN-Moderatorin Sara Sidner am 13. Oktober, dass ihr Sender fälschlicherweise behauptet hätte, Palästinenser hätten am 7. Oktober Babys geköpft. Einen Tag zuvor sagte ein israelischer Regierungsvertreter auf CNN, es gäbe für die Berichte geköpfter Babys „keine Beweise“.

Dennoch halten sich einige auch über 100 Tage nach dem 7. Oktober noch hartnäckig und werden in den Programmen des öffentlich-rechtlichen ORF unbeirrt verbreitet. So strahlte der Radiosender Ö1 in der zweiten Jännerwoche eine fünfteilige Sendreihe über den 7. Oktober im Rahmen von „Betrifft: Geschichte“ aus. In der ersten Folge erzählte der emeritierte Professor für Geschichte von der Universität Innsbruck, Rolf Steininger, von der Hamas wäre am Tag, als der Angriff auf Südisrael im Rahmen der Al-Aksa-Flut begann, „Babys an den Eingangstüren erhängt“ worden.

Steininger wusste sogar von Berichten, wonach „Frauen von der Hamas auf das brutalste vergewaltigt [wurden]. Die Brüste wurden ihnen vor den Augen ihrer Kinder abgeschnitten“, erzählte der emeritierte Professor. Doch nicht nur das: „Die Hamas-Terroristen pferchten Kinder in ihre Häuser und verbrannten sie bei lebendigem Leib.“ Und er ist sich zum Abschluss auch nicht zu schade, nochmals zu erwähnen: „Andere Babys wurden geköpft“, obwohl das schon kurz nach dem 7. Oktober als Falschnachricht entlarvt wurde. Für keine seiner Behauptungen bietet Steininger den Hörern Belege an. 

Um den derzeitigen Krieg im Nahen Osten ausreichend einordnen zu können, ist es notwendig, für das Verständnis rund um die Geschehnisse vom 7. Oktober, auch andere Quellen heran zu ziehen, als nur die offiziellen aus Israel. Im folgenden Text sollen einige Mythen aufgearbeitet werden.

Freigelassene Geisel aus dem Gazastreifen und ihre Familienangehörige würden von der israelischen Armee gebrieft werden, bevor sie mit Medien sprechen dürfen, berichteten Ende November sowohl die Times of Israel, als auch The New Arab. Nehmen sie an den Briefings nicht teil oder wiederholen sie nicht den von der israelischen Armee in den Briefings vorgegebenen Narrativ, würden ihnen Interviews verboten werden, ist darin zu lesen. Da Israel Informationen über den 7. Oktober nur selektiv freigibt, Interviews von Betroffenen zensiert und selbst Falschinformationen verbreitet, wurde in der Recherche auf öffentlich zugängliche Daten, wie Bild- und Videomaterial aus Social-Media-Kanälen, Medienberichte und Gespräche mit Vertretern bewaffneter palästinensischer Gruppen, die bei dem Angriff am 7. Oktober beteiligt waren, zurückgegriffen.

Am 7. Oktober begann in den frühen Morgenstunden eine militärische Aktion palästinensischer Gruppen unter dem Namen „Al-Aksa-Flut“. Die Darstellung als ein Angriff der Hamas auf Israel, wie es in den Medien ausschließlich kolportiert wird, ist ungenau. Denn an den bewaffneten Kämpfen nehmen an diesem Tag alle palästinensischen Fraktionen teil, nicht nur die Kassam-Brigaden, der militärische Arm der Hamas. Geleitet werden die militärischen Aktionen in Gaza und der Westbank vom sogenannten „Gemeinsamen Operationsraum“, der 2006 von der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) ins Leben gerufen wurde und mittlerweile alle bewaffneten Fraktionen umfasst. Bei regelmäßigen Koordinationstreffen des palästinensischen Widerstands in Beirut nehmen seit dem 7. Oktober fünf Organisationen …

Das Leid der Alten blieb zu COVID-Zeiten unsichtbar   |    © iStockphoto

Gefängnis ohne Gitter
Pflegeheime in Zeiten von Corona

Gerichtsmedizinerin Andrea Berzlanovich klagt an: Der Umgang mit Alten und Gebrechlichen in Pflegeheimen während der Corona-Pandemie war von beispiellosen Menschrechtsverletzungen geprägt. Wie kann so etwas in Zukunft verhindert werden?

Von Barbara Gräftner

„Nicht der Schwache hat dem Starken zu dienen, sondern der Starke dem Schwachen – und dies nicht aus Wohltätigkeit, sondern aus Fürsorge und Ehrfurcht“ 
(Dietrich Bonhoeffer, 1933).

Diese Haltung eines generationsübergreifenden Gerechtigkeitsempfindens bildet seit jeher den Kitt einer funktionierenden Gesellschaft. Soweit darf der Wertekonsens, der der europäischen Grundrechte-Charta zu Grunde liegt, wohl ausgelegt werden, wenn es um den Umgang mit alten, gebrechlichen oder pflegebedürftigen Menschen geht. Aber welche Art von Fürsorge, Gerechtigkeit und Achtung erfuhren 2020 und 2021 die Pflegebedürftigen, Alten und Gebrechlichen?   

 

Dieser Frage ging die Volksanwaltschaft aufgrund zahlreicher Beschwerden nach.
Andrea Berzlanovich ist Leiterin des Fachbereichs „Forensische Gerontologie“ am Zentrum für Gerichtsmedizin der MedUni Wien. Sie greift auf einen Erfahrungsschatz aus rund 13.000 Obduktionen zurück, was sie zu einer internationalen Sachverständigen für Todesfälle in Pflegeeinrichtungen macht. Im Nebenberuf ist sie Leiterin einer der sechs Menschenrechtskommissionen der Volksanwaltschaft. Die Volksanwaltschaft wollte wissen, welche Probleme während und nach dem Lockdown in Pflegeeinrichtungen zu bewältigen waren. Von 4. bis 15. Mai 2020 führten die sechs Kommissionen der VA, die für die präventive Menschenrechtskontrolle in den Einrichtungen zuständig sind, österreichweit 166 Interviews mit Pflegedienstleitungen sowie Kontrollbesuche durch. Befragt wurden Personen in öffentlichen, gemeinnützigen sowie gewinnorientierten Einrichtungen. Was die Interviews an gelebtem Alltag in Pflegeheimen während der Pandemie zutage förderten, ist haarsträubend.

„Wir haben gesehen, wie die Bewohnerinnen und Bewohner gelitten haben, weil die sozialen Kontakte einfach weg waren. Die Isolation war extrem. Es wurden Ausgehverbote erteilt auch für in jeder Hinsicht fitte Bewohner und Bewohnerinnen und Besuchskontakte wurden verweigert. Es war menschenunwürdig, was da vorgegangen ist. Menschenrechtsverletzend ohne Ende. Ich habe bei meinen Kontrollvisiten erschütternde Szenen mitbekommen. Denn es waren ja auch Besuche der Bewohner und Bewohnerinnen untereinander verboten. Es gibt Paare und Eheleute, die in Heimen wohnen, und wenn ein Partner auf der Krankenstation war, durfte der andere Partner ihn nicht besuchen – im gleichen Haus, nur in verschiedenen Abteilungen. Nicht einmal dann, wenn einer der beiden im Sterben lag – das muss man sich einmal vorstellen“, berichtet die Gerichtsmedizinerin.

Sie zog sogar private Konsequenzen: „Mein Partner und ich haben einander versprochen, wenn nur irgend möglich, bis in den Tod füreinander zu sorgen. Nur ja kein Pflegeheim. So abschreckend war das.“

 

Folgende Punkte werden im Bericht kritisiert: 
Die Einrichtungen waren auf sich gestellt, auch in Haftungsfragen. Es gab bis April 2020 gar nichts – keine Vorgaben, wie zu handeln ist, und …

 

Unter anderem in der aktuellen Ausgabe (Nr. 6)

Warum der „Media Freedom Act“ seinen Namen nicht verdient, analysiert Christoph Fiedler

Warum die Risikogruppe Nummer 1 während der Corona-Pandemie am wenigsten geschützt wurde, eine Recherche von Barbara Gräftner

Probelesen

Hier können Sie die erste Ausgabe von Die Krähe vom November 2022 kostenlos durchblättern und lesen.

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